Wenn es zwischen Eltern und Kindern nicht rund läuft
simplemiles plant im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge die Einrichtung von Wohngruppen für Kinder und Jugendliche.
Gemeinsames Abendessen, vertrauliche Gespräche, gegenseitige Achtung, Zuneigung, Sicherheit? Nicht in jeder Familie läuft es zwischen den Kindern und Eltern rund. Das Unternehmen simplemiles GmbH i.G. ist Freier Träger in der Kinder- und Jugendhilfe. Seit April hat die Verwaltung ihren Sitz in Pirna, vorher war sie in Dresden ansässig. Simplemiles bedeutet übersetzt einfache Wegstrecken; das Unternehmen möchte Familien in Notlagen helfen und dabei Wege vereinfachen. Konkret geplant ist der Aufbau von Wohngruppen für Kinder und Jugendliche im Landkreis. Darüber sprach Sächsische.de mit Geschäftsführer Tobias Engel.
Herr Engel, was genau plant simplemiles?
Wir wollen Wohngruppen für Kinder und Jugendliche aufbauen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in der Häuslichkeit leben können. Zum Beispiel möchten wir Kinder und Jugendliche ansprechen, die Problem mit elterlichem Kontakt haben, aber auch Kinder und Jugendliche, die emotional-psychiatrische Probleme haben. Ebenso nehmen wir Kinder aus pädagogischen Gründen auf, die zum Beispiel aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten nicht mehr zu Hause wohnen können. Auch gibt es den klassischen Fall, dass Kinder oder Jugendliche keine Erziehungsberechtigten mehr haben. Denkbar ist ebenfalls, dass traumatisierte Kinder aus Kriegsgebieten in unseren Wohngruppen leben, die wieder integriert werden müssen.
Sie sprechen also von Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen sozialen Schichten und Kulturen, die sich in bereits jungen Jahren mit unterschiedlichen Formen der Gewalt, Überforderungssituationen konfrontiert sehen und oder Abhängigkeiten von Süchten und Gefahr für das Kindeswohl gegenüberstehen. Was genau ist Ihr Konzept?
simplemiles setzt sich verstärkt für Kinder und Jugendliche mit seelischen Traumata in Form von intensiv therapeutischen Wohngruppen ein. In unseren Wohngruppen übernehmen wir das Familienleben in einem neuen Umfeld mit angepasster Struktur. Das bedeutet, es wird sowohl von den Bewohnern als auch vom Personal die klassische Rollenverteilung wie in einer Familie gelebt – Erwachsener/Kind. Dabei wird die elterliche Funktion durch die professionelle Führung von Pädagogen in enger Zusammenarbeit mit Psychologen übernommen. Die Kinder und Jugendlichen machen neuen verschiedene Erfahrungen in der familiären Dynamik. So erleben sie, dass es neben gemeinsamen Aktivitäten, gleichen strukturellen Abläufen, dem Herausbilden von Gewohnheiten und Routinen, Beachten von Regeln auch individuell gestaltete Freiräume geben kann. Dies ist für uns ein wichtiger Aspekt.
Also setzen Sie auf Individualität in der Gruppe?
Korrekt. Jedes uns anvertraute Kind/ jeder Jugendliche ist in seiner Entwicklung einzigartig und soll die Chance bekommen, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten frei zu entfalten.
Wie sind die Wohngruppen aufgebaut?
Geplant ist, dass in einem Gebäude zwei Wohngruppen mit je sechs Kindern/Jugendlichen aufgebaut werden. Wir planen mit der Altersgruppe von zwölf bis 18 Jahren. Das ist aber noch nicht festgelegt, da wir noch in Absprache mit den Jugendämtern sind. Jeder Jugendliche hat dann sein eigenes Zimmer, und es gibt Gemeinschaftsräume.
Wie sieht der Alltag aus?
Die Bewohner stehen morgens auf, frühstücken möglichst gemeinsam; falls ein Schulbesuch möglich ist, gehen sie in den Unterricht. Danach gestalten sie selbstständig mit Unterstützung von den Betreuern und Psychologen, die ebenfalls vor Ort sind, zunehmend selbstständig ihre Freizeit. Besteht Bedarf, wird auch bei der Erledigung der Hausaufgaben Hilfe angeboten. Die Bewohner nehmen das Abendessen gemeinsam ein und besprechen die Vorhaben für den nächsten Tag.
Wie werden die Kinder beziehungsweise die Jugendlichen in den Gruppen betreut? Welche Aufsicht gibt es?
Die Wohngruppen werden von Psychologen und pädagogischem sowie therapeutischem Fachpersonal geführt und 24 Stunden, also rund um die Uhr, betreut. Die Bewohner werden dazu befähigt, sich ihres Verhaltens und dessen Ursachen für den entstandenen Konflikt bewusst zu werden und so zu einem Umdenken zu gelangen. Im Prozess der Spiegelung der Konfliktsituation und aufgearbeiteten Ursachen geht es um keine Wertung und Verurteilung, sondern einzig um die Sensibilisierung eigener Denk- und Verhaltensweisen sowie der Bereitschaft für Veränderungen an der eigenen Person, den Umgang mit sich selbst und anderen, egal in welcher „Rollenzugehörigkeit“. In diesen Prozess werden die Eltern oder andere Sorgeberechtigte mit einbezogen. Erst, wenn beide Seiten eine gefestigte Verhaltensänderung im Umgang mit Konflikten und schwierigen Situationen aufzeigen, wird an der schrittweisen Gestaltung der familiären Reintegration gearbeitet. Die Reintegration kann zeitlich limitiert oder in Form gänzlichen Zurückkehrens in die eigene Familie stattfinden.
Wann werden die ersten Wohngruppen von simplemiles im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge eröffnen?
Noch sind wir im Gespräch mit den Ämtern. Ich denke, ein realistischer Zeitplan ist, dass wir die ersten Bewohner in Wohngruppen im Oktober bis Dezember 2022 aufnehmen können. Die Kosten für die Unterbringung und Betreuung der Bewohner übernehmen die Behörden. Für die Familien entstehen keine Ausgaben. Auch in den Landkreisen Bautzen und Meißen planen wir Wohngruppen.
Warum sind dieses Angebot und diese Wohnform für Jugendliche so wichtig?
Da muss ich etwas weiter ausholen. Ich selber bin ausgebildeter systemischer Therapeut und habe zusammen mit Kollegen mehrere Jahre Kinder und Jugendliche betreut. In den vergangenen fünf Jahren ist uns aufgefallen, dass die Belastungslage der Kinder und Jugendlichen in den Familien stark gestiegen ist. Corona ist dabei nur ein Grund. Auch die Zunahme der Schnelllebigkeit der Gesellschaft führt zu einer Überforderung der Betroffenen. Teilweise ist auch ein verändertes Erziehungskonzept Ursache für die Schieflage, in die Familien geraten können. Daraus haben wir das Gefühl entwickelt, dass die bisher vorhandenen Angebote bzw. Wohngruppen nicht ausreichen, sondern dass neue Formen gefunden werden müssen, die verstärkt bei der Emotionalität der Kinder und Jugendlichen ansetzen.
Das Interview erschien in der Sächsischen Zeitung Pirna, 2. Juni 2022, S.15